Max Winter- Im Schatten der Kaiserstadt

Zweifellos war Max Winter einer der ungewöhnlichsten Journalisten seiner Zeit. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wagte er sich in die dunkelsten Ecken der brodelnden Kaiserstadt und erforschte die sozialen Abgründe Wiens. Neben seinen äußerst lebendig gestalteten Sozialreportagen engagierte sich Winter während der schwierigen Zwischenkriegszeit auch für das nationale Kindeswohl und ging schließlich in die Politik. Als Reporter, Journalist, Autor und Politiker machte sich Max Winter im späten 19. Jahrhundert erstmals einen Namen. Nicht wenige sehen noch heute in ihm den Erfinder der Sozialreportage in Österreich. Höre/Lese hier nun mehr über das harte Leben der ärmsten Menschen in der sonst so glanzvollen Kaiserstadt Wien und über das ungewöhnliche Leben eines Ausnahmejournalisten.

“Die ungesundeste Luft für den Berichterstatter ist die Redaktionsluft”, ließ Max Winter einst in seiner Funktion als Chefredakteur verkünden und hielt seine Kollegen an, den Vorgängen und Ereignissen, über die man schreibt, selbst auf den Grund zu gehen. Dies aber bedeutete in so manchem Fall eine gewisse Entbehrung. 

Während das Sujet der Hofberichterstattung beispielsweise in voller Blüte stand, oder der meist gehobene Sportbericht in eigenen Magazinen sowohl bei Lesern als auch Reportern beliebt war, kam im ausgehenden 19. Jahrhundert kaum jemand auf die Idee eine Sozialreportage über das an allen Ecken und Enden wuchernde Elend in der Kaiserstadt zu verfassen. Noch weniger schien es denkbar, sich als Journalist persönlich in die dunkelsten Ecken Wiens zu begeben, um Recherche zu betreiben. 

Max Winter kroch in die Kanalisation der kaiserlichen Millionenstadt,  um zu sehen, wie die

Ärmsten der Armen im Schmutz des Abwassers nach Verwertbarem suchten. Er verkleidete sich als Obdachloser und verbrachte viele Stunden in den Nachtasylen der Entwurzelten, oder ließ sich inkognito von der Polizei festnehmen, um der Realität in Wiener Gefängnissen zu begegnen.1  
Den Skandal rund um die “Insulaner” beim Bau des Winterhafens in der Lobau deckte Max Winter im Zuge einer Reportage auf, er dokumentierte die unmenschlichen Zustände in den Elendsquartieren der Arbeiter im Bezirk Brigittenau, und wagte sich in die

Männer im Kanalsystem des alten Wien
Kanalstrotter (Heinz Krejci: Expedition in die Kulturgeschichte des Abwassers. Wien: MA 30 2004.)

Branntweinstuben der Vorstädte, wo so mancher vom Leben Gebeutelte sein letztes Geld in Schnaps investierte. 2
Noch Im Jahr 1910 konnten im Zuge der Volkszählung 170 000 Bettgeher in Wien registriert werden, Eine ähnliche Zahl lässt sich für das Jahr 1900 angeben, was jeder zehnten, in Wien registrierten Person entsprach. Zu Beginn der 1870er Jahre lebte ca. ein Viertel der Bevölkerung Wiens in Untermiete, die sozialen, aber auch hygienischen Verhältnisse waren oft katastrophal. Zudem begünstigte der Umstand, dass in einer kaum 30 Quadratmeter großen Wohnung nicht selten fünf oder mehr fremde Personen zusammenleben mussten kriminelle Vorgänge. Mit einem gewissen Unmut registrierte man die herrschenden Zustände auch vom Seiten der Kirche und des Kaiserhauses, da man den sittliche Verfall fürchtete. 3

Max Winter, der eigentlich in der Nähe von Budapest geboren worden war, hatte wenig für die trockene Theorie eines Philosophie- oder Wirtschaftsstudiums über. Beide brach er ab. Bald schon entwickelte er sich zu einem Vollblutjournalisten und fand bei der Arbeiter Zeitung ein berufliches Zuhause. 

Um die 1500 Reportagen von Max Winter sind bekannt, die teilweise weit über das Reichsgebiet der österreichischen Monarchie hinausgehen. Nicht alle Artikel Winters wurden von ihm gezeichnet, wodurch es schwer fällt, die genaue Zahl seiner Texte zu bestimmen.  

Hervorzuheben ist in jedem Fall das von ihm verfasste Buch “Der Fall Hofrichter” von 1910, in welchem Winter den damals ebenso populären wie umstrittenen Mordfall um Adolf Hofrichter dokumentierte. Der des zehnfachen Mordversuchs und einfach ausgeführten  Mordes angeklagte Oberstleutnant polarisierte die Gesellschaft auf unterschiedlichsten Ebenen und löste eine Debatte innerhalb der k. k. Armee aus. Winters Buch widmete sich dabei nicht ausschließlich dem vermeintlichen Tathergang und der Schuldfrage, sondern in hohem Maße der damals bereits anachronistischen und mitnichten unbefangenen Militärgerichtsbarkeit. 4

1929 verfasste Max Winter seinen einzigen Roman mit dem Titel “Die lebende Mumie”. Dabei handelt es sich um eine utopische Betrachtungsweise der Gesellschaft in einhundert Jahren. 5

Der Journalist Max Winter in späteren Jahren am Schreibtisch sitzend
Max Winter in späteren Jahren. © VGA, Wien

Bezogen auf Winters politische und soziale Ambitionen ist sein Engagement für das Kindeswohl in besonderer Weise hervorzuheben. Neben seiner leitenden Funktion auf Bundesebene der “Kinderfreunde”, setzte er sich für den Aufbau von Bildungseinrichtungen und Tagesstätten ein und bekämpfte den, in den frühen Tagen der ersten Republik  eklatanten Mangel an Betreuungs- und Lehrkräften. Noch 1919 ließ Winter einige Räume im Hauptgebäude von Schloss 

Schönbrunn in seiner Funktion als Vizebürgermeister schlicht umwidmen und eine Erzieherschule einrichten, die Frauen und Männern offen stand.6

Max Winters letzte Jahre waren aufgrund der sich in Österreich vollziehenden politischen Änderungen von Einsamkeit und materieller Not geprägt. Obwohl Winter aus Österreich nicht offiziell geflüchtet war, sondern eine Einladung zu einer internationalen Vortragsreihe wahrnahm, wurde ihm die Rückreise aus den USA durch den Ständestaat offiziell verwehrt. Seine politische Gesinnung, aber auch von ihm öffentlich getätigte Aussagen bezüglich des nun in Österreich herrschenden Regimes, hatten ihn zu einer persona non grata werden lassen. 7

Versuche, seine journalistische Arbeit in ähnlicher Weise wie in Europa auch in den USA zu etablieren, scheiterten weitgehend. Max Winter starb 1937 in Los Angeles. Sein Grab befindet sich auf dem Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf. 8
 

  • 1Das schwarze Wienerherz – Sozialreportahen aus dem frühen 20. Jh, Helmut Strutzmann (Hg), Österreichischer Bundesberlag, 1982
  • 2Das schwarze Wienerherz – Sozialreportagen aus dem frühen 20. Jh, Helmut Strutzmann (Hg), Österreichischer Bundesberlag, 1982
  • 3https://magazin.wienmuseum.at/bettgeher-in-wien
  • 4Evangelisches Museum Österreich
  • 5Evangelisches Museum Österreich
  • 6Evangelisches Museum Österreich
  • 7Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 154-156.
  • 8Evangelisches Museum Österreich