Luigi Lucheni- Mörder einer Kaiserin

Luigi Lucheni- Mörder einer Kaiserin Behutsam versuchte Dr. Golay eine Sonde in den schmalen Wundkanal einzuführen, doch alle Versuche einer Rettung schlugen fehl. Um 14.40 Uhr hörte das Herz der Kaiserin von Österreich auf zu schlagen - einer der berühmtesten Kriminalfälle des 19. Jahrhunderts nahm in Genf seinen Lauf. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Luigi Lucheni, der den Mord aus politischen Motiven unumwunden zugegeben hatte, bereits in Haft. Endlose Verhöre sollten folgen. "Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen", hatte Lucheni einst verlautbart und damit seinen ganzen Hass auf die Aristokratie kundgetan. Doch wer war der Mann mit der Feile? Was trieb ihn tatsächlich an? Heute soll das letzte Kapitel im Leben Kaiserin Elisabeths aus Sicht des Attentäters beleuchtet werden. Sein Leben. Sein Streben. Sein Sterben. Denn viele Fragen blieben ungeklärt. Bis heute.

Am  21. Oktober 1910 überschlugen sich  die europäischen Tageszeitungen mit Berichten  über das Ende  jenes Mannes, der einst die Kaiserin von Österreich zu Tode gebracht hatte.  Auch die Illustrierte Kronen Zeitung nahm sich des Themas auf der Titelseite an, und unterlegte die Eilmeldung mit einer verstörenden Illustration, welche den jämmerlichen Zustand des Toten dokumentieren sollte. In grobe Linien wurde der Körper Luigi Luchenis  gefasst, halb liegend, halb kniend, den Kopf von der Schlinge seltsam nach unten gedrückt. 

 

Luigi Lucheni erhängt in der eigenen Zelle, Körper weg von BetrachterIn gedreht, zwei Wachen stehen in der offenen Tür und bemerken den leblosen Körper, den Kopf in der Schlinge

Die Szene ereignete sich in eben jener Dunkelzelle, die Lucheni in den ersten Monaten seiner lebenslangen Haftstrafe als Unterkunft diente, und welche  immer dann zur Anwendung kam, wenn ein  schwieriger Gefangener wieder zur Räson gebracht werden sollte. Dem aufmerksamen Betrachter fällt die Polsterung von Wand und Boden auf, sowie die Tatsache, dass der Gefangene keine Schuhe trägt. Geht man von der Absicht aus, dass dem Insassen jede Möglichkeit zur Selbstverletzung genommen werden sollte, so stellt sich die Frage, wie auf den Hosenriemen, mit welchem sich der Mann erhängte, vergessen werden konnte. Eine Antwort blieb man bereits 1910 schuldig. 1

Bezüglich des Tathergangs und der eigentlichen Todesursache Kaiserin Elisabeths erging man sich 1898 in den ersten Meldungen von Seiten der Presse naturgemäß in Spekulationen. Konstatiert wurde eine Herzschwäche der Kaiserin, welche Elisabeth im Moment größter Aufregung zum Verhängnis geworden war. Auch behaupteten viele Zeitungen zunächst, dass Lucheni sich in Gesellschaft eines  älteren Mannes befunden hätte, als er sich auf die Kaiserin stürzte. Ein Komplize?

Um ein möglichst authentisches Bild  zu gewährleisten, veröffentlichte man schließlich eine Aussage der Hofdame Elisabeths, jener Gräfin Szaray, welche sich in unmittelbarer Nähe des Geschehens  befunden hatte:

“...Die Kaiserin war sehr heiter, in besser Laune und in ausgezeichnetem Wohlbefinden. Um halb zwei verließen wir das Hotel und gingen nach dem Landungsplatze. Als wir ruhig am Trottoir des Quai Montblanc am See daherschritten, sah ich, wie ein Mann raschen Schrittes seewärts von dem im Hafen liegenden Schiffe an uns herankam. Er näherte sich der Kaiserin und passierte rasch einen Baum, welcher zwischen ihm und uns stand. Als er dann ganz nah der Kaiserin kam, that er, als wenn er strauchelte, und machte eine Bewegung mit der Hand, ich meine um sich aufrecht zu erhalten, dann lief er weiter. Die Kaiserin hatte eine Bewegung nach Rückwärts gemacht und sank zusammen. 

Als ich die Kaiserin auffing und in meinen Armen hielt, fragte ich: “Ist Majestät nicht wohl?”, worauf die Kaiserin antwortete: “Ich weiß nicht.” Das ist wohl vom Schrecken, erwiderte ich und fügte bei, “wollen doch Majestät meinen Arm nehmen.” Die Kaiserin meinte: “Danke, nein.” Ich versuchte die Kaiserin zu stützen, aber es war kaum nöthig. Wir bestiegen das Schiff, und als wir dort angelangt waren, frug mich die Kaiserin: “Bin ich blaß?”

“Jawohl Majestät, das ist Aufregung”, antwortete ich; da sank die Kaiserin neuerlich zusammen und verlor das Bewußtsein. Ich und einige Damen am Schiff labten die Kranke. Ich hielt das Unwohlsein als einen vorübergehenden Nervenanfall, an ein Attentat dachte ich nicht, und konnte auch keine Idee davon haben, da der Vorgang am Quaitrottoir sich sehr rapid abspielte und ich keine Waffe in Händen jenes Mannes sah. Bis wir die Kleider der Kaiserin lösten um ihr Luft zu schaffen, bemerkten wir keine Blutspuren. Die Kaiserin kam bald wieder zu sich, erhob sich, und fragte mit klarer Stimme: “Was ist denn eigentlich geschehen?” Das waren ihre letzten Worte. Dann sank die Kaiserin zurück. Leichenblässe überdeckte ihr Antlitz.”  2

Die dreikantige Feile Luigi Luchenis, die für das Attentat auf Kaiserin Elisabeth verwendet wurde
Die Tatwaffe Luigi Luchenis befindet sich heute im Josephinum in Wien ©Porzellanfuhre

Elisabeth verstarb um 14.40 in den Räumlichkeiten des Grand Hotels Beau Rivage. 

Lucheni hingegen war auf seiner Flucht kaum hundert Meter weit gekommen. Ein gewisser Chammartin, der das Attentat beobachtet hatte, nahm die Verfolgung des Täters auf und konnte ihn in der Rue des Alpes, auf Höhe des Hauses Nr. 5, stellen. Chammartin fixierte Lucheni zusammen mit einem Droschkenkutscher, der die Vorgänge unten am Quai ebenfalls wahrgenommen hatte, bis zum Eintreffen der Polizei.3

Luchenis lange Jahre hinter Gefängnismauern blieben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unspektakulär.  

Eine interessante Episode ergab sich allerdings durch den Umstand, dass Luigi, der als begeisterter Zeitungsleser galt, auf  einen Schmähartikel gegen ihn stieß, in welchem von unmenschlichen Zuständen im Gefängnis und seiner eigenen Verrohung fabuliert wurde. Gezeichnet wurde das Bild eines Verrückten, der seine Tage damit zu brachte, den Kopf unaufhörlich gegen die Wand zu schlagen, um mit gespenstischer Konsequenz seiner Entmenschlichung entgegen zu schreiten. Auch österreichische Zeitungen griffen dieses Sujet auf und berichteten davon, dass der Mörder der Kaiserin zu “vertieren” drohe. Lucheni protestierte energisch gegen diese Form der Darstellung und legte Wert darauf, als das dargestellt zu werden, was er - seiner eigenen Meinung nach - war: Ein Mann mit Überzeugung, der in einer modernen Zelle lebte, gut behandelt wurde und Montesquieu ebenso gelesen hatte wie Dickens und Rousseau. Die energisch an den Direktor herangetragene Bitte einer Gegendarstellung wurde von diesem allerdings abgelehnt, da es Gefangenen grundsätzlich untersagt war, Interviews zu geben. 4

Eine weitere Diskussion entspann sich rund um die Ausführungen des Psychiaters und Hirnforschers Auguste Forel, der Lucheni bereits im Jahre 1902 eine eingehende Analyse  widmete. Forel, der den Begriff der verminderten Zurechnungsfähigkeit prägte und erstmals für einen differenzierten Strafvollzug geistig abnormer Rechtsbrecher plädierte, stellte sich in einigen essentiellen Punkten gegen die öffentlich vorherrschende Meinung. Zunächst nahm sich Forel der sogenannten Degenerations-Zeichen an, welche man an Form und Proportion unterschiedlichster Körperteile zu erkennen glaubte, und mit geistigen Störungen in Verbindung zu bringen suchte. Luchenis Körper wies keinerlei Behinderungen auf, und bis auf die üblichen blumigen Beschreibungen in den Tageszeitungen kam es kaum zu Interpretationen seiner Physis - vom verschlagen Blick einmal abgesehen. 

Das zuständige Gericht orientierte sich zum Zwecke der Wahrheitsfindung allerdings maßgeblich an den Analysen Cesare Lombrosos, dem Vater der kriminologischen Anthropologie, und folgte somit der um die vorletzten Jahrhundertwende populären Ansicht, dem Bösen im Menschen einen deterministischen Hintergrund  geben zu können. Obwohl nicht gänzlich unumstritten, formte der italienische Arzt und Psychiater eine dem Zeitgeist entsprechende Theorie des angeborenen Bösen, welches sich auch in äußeren Merkmalen niederschlagen würde.

Mit der Theorie  des “Homo delinquens” versuchte Lombroso seine Vorstellung vom geborenen Verbrecher durch eine Vielzahl an Fallstudien zu untermauern. Dazu bediente er sich auch anatomischer Merkmale, deren Häufigkeit in Relation zum Verhalten gesetzt wurden. Das Konstrukt des geborenen Verbrechers als Summe seiner biologischen Eigenschaften hatte weitreichende Konsequenzen, sprach er dem Individuum doch jede Möglichkeit zur Selbstreflexion und letztlich zur Veränderung ab. Lombroso schrieb dem geborenen Verbrecher atavistische Verhaltensmuster zu, und ordnete ihn im Sinne der zu jener Zeit viel diskutierten Evolutionstheorie einer niedrigeren Entwicklungsstufe zu. 5

Als interessantes Detail nimmt sich die Beziehung Luigi Luchenis zu seinem Vorgesetzten und späteren Dienstherren, dem Prinzen von Aragon aus, welche äußerst ambivalent ausfällt. Lucheni, der Mustersoldat, tritt auf persönlichen Wunsch des Prinzen in dessen Dienste, findet sich in der Rolle eines einfachen Angestellten allerdings nicht zurecht. Es fällt ihm schwer, das von Disziplin und Ehre geprägte militärische Verständnis einem zivilen Dasein unterzuordnen. Vielleicht ist es auch die von Überfluss und verspielter Leichtigkeit geprägte Lebensweise der Aristokratie, mit der sich ein Mensch aus den untersten Gesellschaftsschichten nicht identifizieren kann. Überhaupt wäre Lucheni viel lieber in den Staatsdienst eingetreten, als Aufseher in einem Gefängnis zum Beispiel. Dreimal bewirbt er sich in aller Form, investiert Zeit und Geld in die Erstellung entsprechender Unterlagen, ohne eine Antwort zu erhalten. 6

Es ist bewiesen, dass Lucheni im Jahr 1898 mehrmals an Vorträgen und Versammlungen von Anarchisten teilnahm. Lucheni aber war kein Anführer, kein Einpeitscher. Im Gegenteil. Er wurde zunehmend schweigsamer, zog sich zurück, wie die Leute in seinem sozialen Umfeld bemerkten. Selbst der Besitzer einer der Herbergen, in denen Lucheni oft seine Mahlzeiten einnahm, fiel die Veränderung auf. Während seine Landsleute sich echauffierten, diskutierten und sich in leeren Phrasen verloren, begriff Lucheni sich als Mann der Tat. Die Zeit der Worte war vorbei.

Die letzten Stunden seines Lebens verbrachte Luigi Lucheni in einer Dunkelzelle, deren Beschreibung erhalten geblieben ist:

“Die Zelle liegt in den Kellerräumen des Gefängnisses. Man steigt etwa zwanzig Stufen hinab. In der linksseitigen Wand des engen Korridors befinden sich fünf Zellen. Der Kerkermeister erleuchtete den Raum durch eine Laterne und öffnete die schwere, eisenbeschlagene Holztüre, deren Oberteil einige Luftlöcher zeigt. 

Dann durchschreitet man einen meter breiten Raum, und steht vor der eigentlichen, ebenso schweren, mit einem kleinen Fensterchen versehenen Zellentür. Das Fenster vermag die Zelle nicht zu erhellen, da ja der Vorraum vollständig dunkel ist. 

Es ist stockfinster und nur infolge des Laternenscheins bemerkt man den zusammengerollten Strohteppich, der bei Tag als Sitz, bei Nacht als Lager dient. Sonst ist kein Gegenstand in der Zelle…” 

Am 19 Oktober 1910 wurde Luigi Lucheni gegen 18 Uhr erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Die Umstände dieses Selbstmords bleiben bis heute in einigen Details ungeklärt. 7

  • 1Illustrierte Kronen Zeitung, 21. Oktober 1910
  • 2Bukowinaer Post, 13. Sept. 1898
  • 3Santo Cappon, "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi Mörders, Paul Zsolnay Verlag, 1998.
  • 4Agramer Zeitung, 2. Oktober 1907; Reichspost, 19.Mai 1907
  • 5Deutsches Volksblatt, 27. Juni 1902
  • 6Santo Cappon, "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi Mörders, Paul Zsolnay Verlag, 1998.
  • 7Santo Cappon, "Ich bereue nichts!" Die Aufzeichnungen des Sisi Mörders, Paul Zsolnay Verlag, 1998.