Das 'Elendskind' Josefine Selewosky- Freispruch einer Mörderin

Josefine Selewosky wurde zum Sinnbild einer sterbenden Gesellschaft, einer von Krieg und Armut gezeichneten Generation. Als man die junge Frau Anfang des Jahres 1919 wegen Raubmordes vor Gericht stellte, zeichnete die Presse ein Bild des Elends. Eine verkommene Untertanin wurde dem Gerichtshof vorgeführt, die eine alte Bettgeherin hemmungslos für ein paar Münzen erschlagen und deren Leichnam in einen Koffer gezwängt hatte. Niemand zweifelte an Josefines Schuld, und doch sollte der Prozess eine ungeahnte Wendung finden. Höre hier mehr über das Schicksal einer jungen Frau im Schatten des sterbenden Kaiserreichs.

 

Der Fall Selewosky
Mord in Ottakring © ÖNB

“Das ist die Mörderin der Frau Veronika Wessely. Müßiggang ist aller Laster Anfang, Trägheit und Leichtsinn die Schuld. Die Tat könnte geheim bleiben bis zum Tode der Mörderin, ich will aber nicht unschuldige Menschen in einen Verdacht bringen, daher aufdecken, dass ich der alten Frau die Sachen aus dem Kasten genommen, und verkauft habe, um mit dem Gelde ein flottes Leben zu führen. Es war in der Zeit, wo ich ohne Geld und mein Onkel im Spital war…”
Diese Zeilen leiteten ein Geständnis ein, das im Wien des Jahres 1919 für Gesprächsstoff sorgen sollte. Manche sahen darin nur die kalten, aufgesetzten Worte einer gewissenlosen Mörderin, andere wollten ein Zeichen der Zeit, einen weiteren Beweis des nahenden moralischen Untergangs entdeckt haben. 
Als Josefine Selewosky am 31. Juli 1918 die achtzigjährige Veronika Wessely mit einem Hammer erschlug, tobte immer noch der erste Weltkrieg. Wien hatte seinen Glanz längst verloren, die Monarchie stand vor ihrem Ende. Die Mordtat ereignete sich in einer schmutzigen Wohnung in der Schellhammergasse, aus welcher schon bald penetranter Verwesungsgeruch dringen sollte. Die Selewosky hatte den Leichnam der alten Frau in einen Koffer gezwängt und aus Angst, entdeckt zu werden, nicht aus der Wohnung geschafft. Tagelang stand das Gepäckstück neben dem geöffneten Küchenfenster, diente als Sitzgelegenheit und Abstellfläche. Als der Gestank unerträglich wurde und die Tat nicht mehr zu verheimlichen war, stellte sich die Zweiundzwanzigjährige nach einem missglückten Selbstmordversuch der Polizei. In holprigem Deutsch war zuvor noch ein Geständnis entstanden, das einige Zeitungen in ihre Berichterstattung einfließen ließen. 
 

Als der Prozess Anfang des Jahres 1919 begann, war der Gerichtssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Raubmörderin mit dem Gesicht eines Kindes hatte ganz Wien elektrisiert. Ein derart brutales Verbrechen ließ sich nur schwer mit dem schmächtigen, ausgezehrten Mädchen auf der Anklagebank in Einklang bringen. Publikum und Presse schwankten zwischen Mitleid und Faszination. Josefa wurde als verwahrlost und wenig ansehnlich beschrieben, als eine Frau, die nur wenig auf ihr Äußeres acht gabt und “vielmehr im Körper eines vielleicht fünfzehnjährigen Kindes gefangen zu sein scheint, als in einem solchen eines erwachsenen Menschen.”
Richter: “Bekennen Sie sich schuldig?”
Angekl. (schluchzend):  “Ja, des Mordes und der Diebstähle.”
Auf die Frage des Vorsitzenden nach dem Ablauf der Bluttat gab Josefa bereitwillig Auskunft:
“Ich sah auf der Kohlenkiste einen Hammer liegen, und da kam mir momentan der Gedanke, die Anzeige auf jeden Fall zu verhindern. Ich nahm den Hammer und schlug damit zweimal gegen den Kopf der Greisin los, die mit einem lauten Schrei zusammen stürzte. Der Kopf lag auf den Steinplatten beim Herd. Da die Frau noch atmete, schlug ich ihr das Handtuch um den Hals und wartete, bis ich kein Lebenszeichen mehr sah. Dann bin ich aus der Küche in das Zimmer gegangen und dort zusammengefallen.” 1
Dass es überhaupt so weit kommen konnte, wurde den Lebensumständen der jungen Frau zugeschrieben, die sich denkbar ungünstig gestalteten. 
“Ich bin ein außereheliches Kind”, gab sie vor Gericht an, “das bis zum achten Monat bei seiner Mutter gewesen war. Danach kam ich zu meinem Onkel Johann.” Johann Haderer, der sein Leben als Hilfsgärtner fristete und das schmale Auskommen gelegentlich durch die Aufnahme von Bettgehern und Untermietern aufzubessern suchte, wollte als Erziehungsberechtigter sein Bestes gegeben haben, musste jedoch schon früh feststellen, dass die Nichte einen Drang zum Aneignen fremden Eigentums entwickelte, der nicht selten zu Verwarnungen und Vorladungen führte. Auch Veronika Wessely, die bei Herrn Haderer über die Jahre hinweg immer wieder als Untermieterin und Bettgeherin lebte, machte entsprechende Erfahrungen. Da die Wessely Josefa von Kindesbeinen an kannte und sie “auf den Knien geschaukelt hatte”, wie Haderer im Gerichtssaal später aussagte, verzichtete sie zugunsten des Mädchens zunächst auf eine Anzeige. Die Diebstähle allerdings wollten nicht aufhören. Waren es anfangs Wäschestücke, eine Decke, ein Polsterüberzug und ein Kleid gewesen, die plötzlich verschwunden waren, fehlten immer öfter auch kleinere Geldbeträge. Als am 30. Juli 1918 schließlich fünf Zehnkronenstücke verschwunden waren - ein nicht unerheblicher Wert für Veronika Wessely - entschied sich die alte Dame für den Gang zur Polizei. 


“Nach der Tat legte ich mich im Zimmer ins Bett und verblieb dort bis vier Uhr nachmittags. Als ich aufgestanden war, ging ich in die Küche, bedeckte die Leiche mit Tüchern und legte auf die kleine Blutlache, welche sich um den Kopf der Leiche gebildet hatte, einige Fetzen, damit sich das Blut aufsauge. Dann ging ich aus und kehre gegen 9 Uhr abends wieder.”
Auf die Frage des Richters, nach den weiteren Geschehnissen, gab die junge Frau an, sich in das Zimmer eingeschlossen und etwas Brot gegessen zu haben, da sie den ganzen Tag nichts zu sich genommen hatte. Danach las sie bis 23.30 Uhr in einem Roman, der die Aufmerksamkeit des Gerichts auf sich zog. 
“Sie haben einen Roman von der Marlitt gelesen. Sagen Sie mir, wie brachten Sie es zuwege, nach einer so grauenvollen Tat einen Roman für Backfische zu lesen, trotzdem die Leiche in der Küche lag?”, wollte der Richter wissen.
Josefa gab an, sich durch das Lesen abgelenkt zu haben, da sie aufgrund der Geschehnisse nicht einschlafen konnte. Vielmehr verbrachte sie eine schlaflose Nacht, gequält von Gewissensbissen und Ängsten, welche auch die Lektüre der Eugenie John, wie E. Marlitt mit bürgerlichem Namen hieß, nicht vertreiben konnte. Johns Werke, die häufig starke, selbstbewusste Frauen in den Mittelpunkt der Handlung stellen, erfreuten sich auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch großer Beliebtheit. Ihr Schaffen floss in die Anfänge der Frauenbewegung mit ein. 


Schließlich rang sich die Selewosky dazu durch, die Ermordete in einem alten Koffer zu verstecken und die Wohnung zu verlassen, bevor der Onkel aus dem Spital zurückkehren sollte. Josefa verbrachte eigenen Angaben zufolge einige Tage auf der Straße, lebte von dem gestohlenen Geld der Wessely, schlief in Telefonzellen und Hinterhöfen, um schließlich einen Selbstmordversuch am Donauufer bei Nußdorf zu verüben. Nach weiteren Stunden des ziellosen Umherwanderns und einem Diebstahl von Brot folgte letztlich der Gang zur Polizei. 
“Bei dem Mordinstrument handelt es sich um einen langstieligen, schweren Eisenhammer”, führte der Sachverständige vor Gericht aus. Auch der skelettierte Schädel Veronika Wesselys wurde von dem Gerichtsarzt Prof. Dr. Reuter im Zuge der Verlesung des Obduktionsbefunds vorgezeigt: “Man sieht zwei große Löcher am Hinterhaupte und nächst dem Jochbein, die von Hammerschlägen herrühren. Die Schädelwand ist an diesen Stellen glatt durchschlagen, außerdem fehlen links die Jochbeinbrücken und das Jochbein; sie sind durch einen Hieb abgeschlagen worden. Die Hiebe wurden kräftig geführt. Frau Wessely starb an den ihr zugefügten Gehirnverletzungen, der Todeskampf ist durch das Umschnüren des Halses mit einem Handtuch abgekürzt worden.” 2

Als am 15. Jänner 1919 die Urteilsverkündung bevorstand, hielt Wien den Atem an. Die Geschworenen zogen sich über eineinhalb Stunden in den Beratungsraum zurück, schon im Vorfeld der Urteilsfindung hatte sich eine interessante Entwicklung abgezeichnet: Da Josefa Selewosky die Tat sowohl mündlich als auch schriftlich gestanden, und ihr Vorgehen ausführlich beschrieben hatte, war der Antrag der Verteidigung bei Erörterung  der Schuldfrage, auf Totschlag zu plädieren, vom Gericht als nicht zulässig erachtet worden. Immerhin hatte Josefa den Vorsatz, die alte Frau zu töten, gestanden. Was also blieb war eine Anklage auf Mord, wodurch die Todesstrafe in Aussicht gestellt wurde. 
Es ist nicht vollständig geklärt, welche Beweggründe acht der zwölf Geschworenen dazu bewogen haben könnten, ihre Urteile entsprechend zu fällen, doch wurde Josefa freigesprochen. Man spekulierte, dass das “armselige, kindische, gehetzte und verhungerte Mädchen”, wie eine Zeitung sie beschrieb, einfach das Mitleid der Jury erregt hatte. Josefa Selewosky, das zerlumpte Elendskind, schien von der Welt gestraft genug, Der Präsident des Gerichtshofs, Hofrath Würth, verkündete mit belegter Stimme, dass Josefa Selewosky Veronika Wessely nach dem Wahrspruch des Gerichts nicht umgebracht habe. 
Das Urteil schlug ein wie eine Bombe. Gerichtsdiener und Uniformierte mussten die Ordnung im Saal wieder herstellen, als sich unter die Protestrufe auch Jubel mischte verlor Präsident Würth die Contenance: “Der Vorsitzende sprang heftig erregt vom Sitze auf und bemerkte scharf: Ruhig! Es ist ein Skandal, noch zuzujubeln, wenn eine Mörderin freigesprochen wird!”
Den Versuch der Selewosky, einige Worte zu sagen, unterbrach Würth scharf: “Aber gehen Sie nach Hause. Schauen Sie, dass Sie fortkommen!” 3


Letztlich wurde Josefa nur zu vier Monaten Gefängnis wegen Diebstahls verurteilt. Schon am Tag nach ihrer Entlassung verliert sich ihre Spur in den Gassen einer vom Krieg gezeichneten Millionenstadt. 
 

  • 1

    Illustrierte Kronen Zeitung, 14. Jänner 1919.

  • 2

    Illustrierte Kronen Zeitung, 14. Jänner 1919.

  • 3

     Illustrierte Kronen Zeitung, 15. Jänner 1919.