
Am 14. November 1899 startete in Wien der erste von insgesamt zwei aufsehenerregenden Kindesmisshandlungsprozessen, welchen sowohl von Seite der Presse, der Politik, aber auch der Gesellschaft große Aufmerksamkeit geschenkt wurden. Den Auftakt zu diesen durchaus sensiblen Verhandlungen machte das Ehepaar Hummel, welchem man vorwarf die eigene Tochter über Monate hinweg zu Tode gemartert zu haben. Exakt zwei Wochen später, am 28. November, standen Rudolf und Marie Kutschera wegen ganz ähnlicher Vorwürfe vor Gericht. Sowohl vor als auch nach diesen Verhandlungen hatte es in Wien Anklagen wegen Kindermisshandlung oder auch Kindstötung gegeben. Keiner dieser Prozesse sollte jedoch dermaßen tief in Gesellschaft jener Tage vordringen, wie es die Aussagen der Eltern von Anna Hummel und Anna Kutschera taten: Juliane Hummel: „Mein Mann hat das Kind auch geschlagen, so wie ich manchmal. Die Verletzungen an der Lippe habe ich erst gesehen, wie ich nach Hause gekommen bin.“ Joseph Hummel: „Das ist nicht wahr!“ Juliane Hummel: „Du bist am Abend mit einem Rausch nach Hause gekommen und hast die Anna an den Kasten geworfen.“ Joseph Hummel: „Das ist alles nicht wahr!“ Vorsitzender: „Der Joseph Hummel soll zu einem Nachbarn gesagt haben, er hat eine neue Erfindung gemacht, er schlägt das Kind auf den Magen, da kann kein Arzt eine Verletzung konstatieren.“ Juliane Hummel: „Er hat das Kind auf die Brust geschlagen, auf den Magen nicht.“ 1
Die Obduktion der gerade fünfjährigen Anna Hummel förderte eine Vielzahl an Verletzungen unterschiedlichster Schwere zutage, die auf ein endloses Martyrium über Monate hinweg schließen ließen: Neben Abschürfungen, Hämatomen und Läsionen wurden auch eitrige Wunden, Knochenbrüche, Brandspuren Verkrüppelungen an den Fingern beider Hände, ausgeschlagene Schneidezähne, Rissquetschwunden und starke Unterernährung festgestellt. Zum Zeitpunkt des Todes hatte Anna nur noch knapp neun Kilogramm gewogen. Als Todesursache wurde eine Gewebsentzündung im Gesichts- und Kopfbereich konstatiert, welche durch bakterielle Infektionsherde schließlich zu einer Blutvergiftung geführt hatte. Ähnlich grauenvolle Zustände ließen sich für den Fall Kutschera ermitteln. Auch am Körper der elfjährigen Anna wurden schwerste Misshandlungen festgestellt, als Todesursache ging man von einem Nervenschock und einem daraus resultierenden Herzstillstand aus, ausgelöst durch ein kaltes Bad, zu welchem die bereits schwer gezeichnete Anna von Marie Kutschera gezwungen worden war. 2
Gerade die Todesursache im Falle Kutschera zeigt das Verständnis von Kindererziehung, Züchtigung und Misshandlung im ausgehenden 19. Jahrhundert deutlich. Da die Gewalttaten als solche nicht abzustreiten waren, wurden sie von den Angeklagten teilweise zugegeben, allerdings als erzieherisches Mittel im Rahmen der erlaubten körperlichen Züchtigung dargestellt. Ein Übertreten des Züchtigungsrechts wurde zwar auch im 19. Jahrhundert geahndet, doch spiegelte sich das Prügeln der eigenen Kinder behördlich lediglich in Verweisen. Ausschlaggebend für Marie Kutscheras Verurteilung waren daher nicht die zahlreichen Verletzungen an Annas Körper, sondern das kalte Bad, welches nach Meinung des Gerichtsarztes zum Tode des Kindes geführt hatte. Die vor Gericht getätigten Aussagen anderer Mediziner, dass die zahlreichen Gewalttaten gegen Anna, verbunden mit ihrer, durch Nahrungsentzug geschwächten Konstitution, als Todesursache in Frage kämen, wurden letztlich ignoriert. Da man Marie Kutschera des Mordes angeklagt hatte, lag im kalten Wasser aus Sicht der Geschworenen genau jener Vorsatz, den man durch die unzähligen Misshandlungen argumentativ nicht hatte herleiten können. Marie Kutschera wollte einen Schockzustand bei dem Kind herbeiführen, um es zu töten, so die Argumentation, daher das kalte Bad. Dieser Ansatz klang für Gericht, Geschworene und Auditorium schlüssig. Am Recht der Züchtigung wurde indes nicht gerüttelt.3
Auch der Fall Hummel offenbarte eine ähnliche Sichtweise. Joseph und Juliane Hummel begingen zumindest einige der Grausamkeiten an ihrer Tochter in der Gegenwart von Nachbarn, wie anhand der Aussage Magdalena Kronbergers oder des Hausmeisters erkennbar. Das unterernährte Kind außer Reichweite des vollen Mittagstellers anzubinden beispielsweise, oder dem Kind die eigenen Exkremente in den Mund zu schmieren, geschah in Gegenwart der oben genannten Personen. Aufforderungen, diese Handlungen zu unterlassen blieben von Seiten der Eltern unbeachtet, man verwies auf das verdorbene, schlimme Kind und die gerechte Bestrafung. Offenbar fühlten sich die Eltern Hummel nicht nur im Recht sondern auch so sicher, dass ein Verbergen ihrer Untaten gar nicht erst angedacht wurde. Die beiden großen Prozesse rund um das Thema Kindesmisshandlung warfen auch ein bezeichnendes Licht auf die Rolle der Behörden, die über weite Strecken trotz diverser Hinweise und Anzeigen untätig blieben. Im Wesentlichen reduzierte sich die polizeiliche Arbeit im Fall Kutschera auf das Zurückbringen geflüchteter Kinder zu ihren prügelnden Eltern, oder das Verständigen derselben, wenn wieder einmal ein Kutschera Kind“ auf der Wache abzuholen war. Unterstützung der Kinder durch die Beamten war sowohl im Fall Kutschera als auch im Fall Hummel nicht zu erwarten. 4
Sowohl Juliane und Joseph Hummel als auch Marie Kutschera wurden letztlich wegen Mordes zum Tode verurteilt. Rudolf Kutschera, Maries Ehemann, kam frei. Auch er hatte seine Kinder nachweislich geschlagen, doch befand er sich in der Nacht des Todes seiner Tochter auf Dienstfahrt und machte insgesamt einen deutlich besseren Eindruck auf das Gericht als die anderen Angeklagten. Rudolf Kutschera arbeitete als Postbeamter, drückte sich gewählt aus, konnte eine elegante Erscheinung vorweisen und trat als strenger doch liebevoller Vater auf. Zumindest einige der Zeugenaussagen seiner Kinder fielen vor Gericht zudem zu seinen Gunsten aus. 5
Hingerichtet wurde indes nur Juliane Hummel. Ein Grund für das Ablehnen aller Gnadengesuche mag in
dem Umstand zu suchen sein, dass Juliane im Gegensatz zu Marie Kutschera die leibliche Mutter ihres Opfers war. Während Marie Kutschera als Stiefmutter auf der Anklagebank saß, karikierte Hummel durch ihre überaus grausamen Verbrechen das traditionelle Bild der Mutterschaft geradezu. Darüber hinaus gestaltete die Kutschera ihre Verteidigung deutlich eloquenter und durchdachter. Vor allem ihre Aussage, dass ihre Stiefkinder sexuell verdorben wären, beeindruckte das Gericht zunächst, das überaus harte Vorgehen gegen die angeblich herrschende Unzucht und Sittenlosigkeit traf auf Verständnis von Seiten der Geschworenen. 6
Bis heute hält sich zudem die Ansicht, dass Kaiser Franz Joseph, welchem das Begnadigungsrecht oblag, von einem weiblichen Mitglied der Familie Habsburg dazu angehalten wurde, Juliane Hummel nicht zu begnadigen. Ob es sich dabei, wie häufig kolportiert, um seine jüngste Tochter, Erzherzogin Marie Valerie handelte, ist allerdings nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln. Juliane Hummel wurde am 2. Jänner des Jahres 1900 am Würgegalgen im Hof des Landesgerichts Wien hingerichtet. Über den Ablauf dieser Exekution existieren unterschiedliche Berichte. Während viele Quellen von einem wahren Martyrium sprechen, welches auf fehlende Praxis und Nervosität des Scharfrichters Wohlschläger zurückzuführen gewesen wäre, meldeten andere Quellen keine Besonderheiten im Ablauf der rohen Prozedur. Zudem wurde der Leichnam Hummels einer Obduktion mit dem Ziel unterzogen, potenziell pathologische Strukturen im Gehirn mit ihren Untaten in Zusammenhang bringen zu können, was allerdings nicht gelang. Der Schädel Juliane Hummels ist bis heute im Wiener Kriminalmuseum als Exponat erhalten geblieben. Der gerichtlich angeordnete Tod am ersten Arbeitstag des 20. Jahrhunderts befeuerte die Diskussionen um die Notwendigkeit der Todesstrafe in der österreichischen Monarchie erneut. Joseph Hummel und Marie Kutschera wurden zu langen Haftstrafen begnadigt, Rudolf Kutschera strebte unmittelbar nach dem Prozess die Scheidung von Marie an, welche auch ausgesprochen wurde. 7
Eine tiefergehende Sensibilisierung rund um das Thema Kindesmisshandlung fand trotz großen medialen Aufsehens und heftig geführter Diskussionen nicht statt. Rudolf Kutschera kündigte unmittelbar nach seinem Freispruch an, einen Antrag auf Rückholung seiner Kinder stellen zu wollen.
Volksblatt für Stadt und Land, 23. Nov. 1899.
Neuigkeits-Welt-Blatt, 2. Dezember 1899 .
Larry Wolff, Ansichtskarten vom Weltuntergang, 1992, Residenz Verlag
ebd.
Neuigkeits-Welt-Blatt, 2. Dezember 1899.
Larry Wolff, Ansichtskarten vom Weltuntergang, 1992, Residenz Verlag .
Neuigkeits-Welt-Blatt, 2. Dezember 1899.