In ihrem Buch „Girardi-ein Wiener aus Graz“ merkt die Biographin Beatrix Schiferer an, dass das goldene Zeitalter der Wiener Operette mit dem Tod Girardis im Jahre 1918 endgültig sein Ende gefunden hatte. Viele der leicht eingehenden Melodien des Johann
Strauss jun., wie sie diverse Operetten bis heute bieten, wären ohne den berühmten Komiker und Sänger Alexander Girardi im 19. Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen. Der privat eher zurückgezogen lebende Schauspieler dominierte das komische Fach an den Theatern Wiens über Jahrzehnte hinweg, und fand auch weit über die Grenzen des Habsburgerreichs hinaus Anerkennung. Gerade in seinen letzten Lebensmonaten ereilte ihn der in Schauspielerkreisen überaus begehrte Ruf an die „Wiener Burg“, also ein Engagement an das Wiener Burgtheater, welches man rühmte, das beste im gesamten deutschsprachigen Raum zu sein. Doch diese späte Ehre erreichte einen bereits von Krankheit und Strapazen deutlich gezeichneten Girardi, der an Diabetes litt und von Stimmproblemen geplagt wurde. Knapp vor seinem Tod musste ihm noch ein Bein abgenommen werden – der Superstar des komödiantischen Fachs starb allein in einem steril gehaltenen Krankenzimmer am 20. April 1918. 1
Eine Passion für die Schauspielerei entwickelte Alexander Girardi schon in sehr jungen Jahren, indem er Passagen aus bekannten Stücken in seinem Zimmer lernte, um die entsprechende Rolle nach Belieben zu interpretieren. Girardis künstlerische Ambitionen wurden jedoch mit dem Tod des Vaters 1858 von der Realität eingeholt und zerschlagen. Wohl mehr aus Gründen der Wirtschaftlichkeit als aus Liebe heiratete seine Mutter Maria den ersten Gesellen der kleinen, familieneigenen Schlosserei, Ignaz Sucic, und setzte dem gerade neunjährigen Alexander somit einen Stiefvater vor, welcher dem Theater kaum etwas abgewinnen konnte. Das Verhältnis des Jungen zu dem neuen Familienoberhaupt dürfte unterkühlt gewesen sein, schauspielerische Ambitionen, die über den Status eines privat betriebenen Hobbies hinaus gingen, lassen sich in dieser Zeit kaum erkennen. Erst mit dem Tod des Stiefvaters nahm Girardis Karriere Gestalt an. Er trat in Laienspielgruppen auf, erste Engagements auf Sommerbühnen und in Provinztheatern folgten. Noch konnte man den später so gefeierten Komiker in unterschiedlichen Genres erleben, man teilte ihm auch ernste oder tragische Rollen zu. Achtungserfolge gelangen, der große Durchbruch allerdings ließ noch auf sich warten. Mit der “goldenen Ära” der Wiener Operette allerdings, welche durch die Werke Johann Strauss jun. ihrem Höhepunkt entgegensteuerte, mehrte sich auch Girardis Ruhm. Das “komische Fach”, die so genannte “leichte Muse” schien dem nun aufstrebenden Künstler mehr zu liegen als gravitätische Rollen. Darüber hinaus zeigte Alexander Girardi auch Mut zum Experimentieren, legte so manch bekannte Rolle völlig neu an, suchte die künstlerische Distanz zu seinen Kollegen und unterstrich zunehmend seine Einzigartigkeit. Anton Maria Girardi, Das Schicksal setzt den Hobel an.2
Weniger gewandt bestritt Girardi sein privates Leben, welches er über lange Jahre zurückgezogen und unspektakulär an der Seite seiner Mutter verbrachte. Ernsthafte Ambitionen, eine eigene Familie zu gründen, zeigte der Schauspieler erst nach dem Tod Maria Girardis im Jahre 1885. In den romanesk gehaltenen Lebensaufzeichnungen über seinen Vater spricht Anton Maria Girardi von einer kurzzeitigen Vermählung des berühmten Schauspielers mit der Bühnengröße Katharina Schratt. Auch Josephine Gallmeyer, eine weitere Grand Dame des Theaters jener Jahre in Wien, wurde eine Liaison mit dem an Jahren jüngeren Girardi nachgesagt. Zu beweisen ist all das jedoch nicht. Als Alexander Girardi sich trotz mehrfacher Warnungen durch Freunde und Kollegen im Jahre 1893 Helene Odilon zuwandte, mag das seine Unerfahrenheit in Bezug auf das andere Geschlecht noch unterstrichen haben. Anfang der 1890er Jahre galt die Odilon als eine der vielversprechendsten Bühnengrößen Wiens, ein aufgehender Stern am Theaterhimmel der Kaiserstadt. Sie spielte nicht nur die Grand Dame, sie verkörperte den Typus der selbstbewussten, elitären Dame von Welt bald auch abseits der Bühne, und bewegte sich auf dem glatten Parkett der internationalen Gesellschaft durchaus gewandt. Ganz im Gegensatz zu Girardi. Helene Odilons Versuche, Alexander Girardi in das gesellschaftliche Leben der oberen Schichten einzuführen scheiterte kläglich. Ihr Ehemann hingegen musste erkennen, dass seine berühmte und selbstbewusste Frau keinerlei Ambitionen hegte, ihre Urlaube abgeschieden in einer Villa in Bad Ischl zu verbringen. Auch Girardis Vorliebe für das Fahrrad, damals noch ein Sport für die überwiegend höheren Stände, teilte sie mitnichten. Zuletzt mehrten sich auch die Gerüchte, dass Helene Odilons Verheiratung kaum Einfluss auf ihr allgemein reges Liebesleben genommen hätte – ein Umstand, der Alexander Girardis latente Eifersucht immer aufs Neue anheizte.3
Nach kaum drei, äußerst durchwachsenen Ehejahren, kam es im Hause Odilon-Girardi schließlich zur Katastrophe. Helene Odilon verließ die eheliche Wohnung, quartierte sich überraschend im Hotel Sacher ein und ließ ihren von Eifersucht geplagten Mann als verrückt erklären. Nur mit Mühe und der Hilfe von befreundeten Kollegen entkam Alexander Girardi der Irrenanstalt, Katharina Schratt erreichte durch Kaiser Franz Josephs Gunst letztlich die Erstellung eines psychiatrischen Gegengutachtens.4
Die Affäre Girardi schlug im Wien des Jahres 1896 verständlicherweise hohe Wellen und fand Eingang in die österreichische Presselandschaft. Odilon hatte die überreizte seelische Konstitution ihres Mannes, insbesondere seine sich in unschönen Szenen entladende Eifersucht dazu benutzt, ihn als selbstmordgefährdet und gemeingefährlich darzustellen. Anzunehmen ist, dass Alexander Girardi durch eine längere Behandlung seiner Stimmbänder mit einer Kokaintinktur psychisch sowie körperlich geschwächt wurde. Da Girardi schon einige Zeit vor dem eigentlichen Skandal von der Polizei observiert worden war, und der Polizeipräsident persönlich in den Fall involviert wurde, darf aus heutiger Sicht angenommen werden, dass Helene Odilon die Einweisung ihres Ehemannes über längere Zeit hinweg geplant und dabei Unterstützung durch ihren Geliebten, Baron Albert Rothschild genossen hatte.5
Girardis psychische Konstitution wurde letztlich als unauffällig gewertet, er zeigte keinerlei Anzeichen von Geisteskrankheit, man attestierte ihm lediglich ein hohes Maß an Nervosität und verordnete ihm Ruhe. Die „Affäre Girardi“ ging als handfester Skandal in die Theatergeschichte Wiens ein und hinterließ ob der persönlichen und rechtlichen Unzulänglichkeiten einen schalen Beigeschmack in der Öffentlichkeit. In der zweiten Ehe mit Leonie Latinovicz, der Ziehtochter des bekannten Klavierproduzenten Ludwig Bösendorfer, erfuhr Girardi mehr Erfüllung. Aus dieser Verbindung ging auch Alexander Girardis Sohn Anton hervor, der ebenfalls den Beruf des Schauspielers ergriff.6, 7
Wenige Jahre nach der Scheidung von Alexander Girardi erlitt Helene Odilon einen Schlaganfall, durch welchen ihre Bühnenkarriere ein abruptes Ende fand. Die einst gefeierte Schauspielerin blieb der Öffentlichkeit jedoch durch Skandale und Gerichtsverfahren im privaten Umfeld erhalten, noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wurde die Odilon unter fragwürdigen Umständen unter Kuratel gestellt. Zwei weitere Ehen scheiterten, endlose Gerichtsprozesse folgten. Die Grand Dame von einst rutsche in drückende Armut ab. Die Odilon starb am 9. Februar 1939 in Baden bei Wien in einem Heim.
Auch ihr Grab befindet sich heute am Wiener Zentralfriedhof, es ist schlicht gehalten. Nichts deutet mehr auf das turbulente Leben einer der berühmtesten Schauspielerinnen des angehenden 20. Jahrhunderts hin.
Beatrix Schiferer, Girardi-ein Wiener aus Graz, Verlag Jugend und Volk, 1975.
Der Lebensroman Alexander Girardis, Vieweg Verlag, 1941.
Beatrix Schiferer, Girardi-ein Wiener aus Graz, Verlag Jugend und Volk, 1975.
Anton Maria Girardi, Das Schicksal setzt den Hobel an. Der Lebensroman Alexander Girardis, Vieweg Verlag, 1941.
Beatrix Schiferer, Girardi-ein Wiener aus Graz, Verlag Jugend und Volk, 1975.
Anton Maria Girardi, Das Schicksal setzt den Hobel an. Der Lebensroman Alexander Girardis, Vieweg Verlag, 1941
Czernowitzer Allgemeine Zeitung, 15. August 1906; Innsbrucker Nachrichten, 20, März 1942.